Presseerklärung„EU-Anpassungspaket“
ist ein Betrug! Als Anfang August das „EU-Anpassungspaket“ das
türkische Parlament passierte, verkündeten aufgeregt politische Kreise in der
Türkei sowie die türkische Presse, die Türkei hätte damit die Erwartungen der
EU und die Kopenhagener Kriterien erfüllt und der Ball sei nun bei der EU. Diese
Einschätzung ist weder realistisch, noch richtig. Wenn auch die Gesetzesänderungen,
die das türkische Parlament passierten, einige positive Aspekte aufweisen, so
erfüllen sie weder die Kopenhagener Kriterien, noch können sie als ein ernsthafter
Schritt zur Lösung der Kurdenfrage und zur Demokratisierung gewertet werden. So
wurde beispielsweise mit diesen Gesetzesänderungen die Todesstrafe bis auf „Kriegssituationen
oder drohende Kriegssituationen“ aufgehoben. Doch gibt es überhaupt einen Tag,
an dem sich die Türkei nicht im Krieg oder am Rande eines Krieges befindet? Die
Beziehungen der Türkei zu ihren Nachbarn ist immer angespannt und mit dem kurdischen
Volk befindet sie sich fast immer im Kriegszustand. Also wird es für die Regierenden
dieses Landes zu keiner Zeit ein Problem sein, die Anwendung der Todesstrafe zu
begründen. Andererseits muss man fragen, ob die Todesstrafe in der Türkei
der einzige Weg für dem Staat ist, Menschen umzubringen. Obwohl seit 1984 in diesem
Land keine einzige Hinrichtung mehr vollzogen wurde, starben Tausende von Menschen
unter Folter und in Gefängnissen. Mitten auf der Straße, ja sogar im eigenen Haus,
vor den Augen ihrer Partner und Kinder, wurden Menschen willkürlich hingerichtet.
Derzeit werden aus den F-Typ Gefängnissen tagtäglich die Leichen von politischen
Häftlingen herausgetragen. Werden von nun an diese Praktiken ein Ende finden? Es
wird behauptet, dass mit den jüngsten Reformen die Bildung und auch Sendungen
in der Muttersprache frei zugelassen werden. Auch das ist nicht wahr! Die Hindernisse
vor der Bildung in der Muttersprache wurden nicht aufgehoben. Es ist lediglich
die Rede von Unterricht in der Muttersprache, der, wenn er überhaupt Anwendung
findet, außerhalb des Schulunterrichtes in privaten Kursen möglich sein könnte. So
wird die Nation von 20 Millionen Kurden wieder, wie in der Vergangenheit, keine
Bildung in der Muttersprache in der Grund-, Mittel- oder Oberstufe erhalten. Nicht
eine einzige Schule wird sie haben. Kann diese Farce als Bildung in der Muttersprache
bezeichnet werden? Damit macht man sich über das kurdische Volk lustig. Es
ist unklar, in wiefern diese Kurse realisiert werden. Man darf sich nicht wundern,
wenn selbst diese Kurse mit unzähligen Behinderungen durch die Bürokratie oder
durch die Polizei verhindert werden. Mit einer Reform sollen auch die Hindernisse
vor Sendungen in der Muttersprache aufgehoben worden sein. Wer daraus schließt,
dass Radio und Fernsehen nun frei in Kurdisch senden können, irrt! Durch die Monate
andauernden Diskussionen über dieses Thema weiß man, dass das Regime keine derartige
Intention hat. Vielmehr sieht das Regime für die 20 Millionen Kurden eine streng
durch den Staat kontrollierte, täglich halbstündige Sendung vor. Es wird unmissverständlich
klargestellt, dass es nicht vorgesehen ist, private Radio- und Fernsehsendungen
in Kurdisch oder in anderen Sprachen zuzulassen. Werden die Kurden nun Parteien
oder Vereine gründen können, die ihre Identität und ihren Namen tragen und die
ihre Forderungen legal zum Ausdruck bringen? Sicher nicht! Der Verbot solcher
Freiheiten gilt heute ebenso wie gestern als eine „schwere Straftat zur Spaltung
des Landes und des Volkes“. Das türkische Rechtsystem ist ein Labyrinth
voller Fallen und Hindernisse für Rechte und Freiheiten. Das gilt an erster Stelle
für Verfassung von 1982, die ein Produkt der Junta ist. Es können keine
ernsthaften Schritte in Richtung Demokratie und Erfüllung der Kopenhagener Kriterien
unternommen werden, bevor diese Verfassung und das gesamte Gesetzessystem nicht
demokratisiert werden. Dafür wiederum ist der Wunsch nach einer ernsthaften Veränderung
der Gesellschaft und ein starker politischer Wille notwendig. Mit den zur
Zeit unwillig und zögerlich durchgeführten, plakativen Gesetzesänderungen dagegen
wird lediglich der Zweck verfolgt, einen Termin für die EU-Beitrittsverhandlungen
zu bekommen. Wie gewohnt versuchen die türkische Regierung, das Parlament und
die politischen Parteien, die Öffentlichkeit im In- und Ausland zu täuschen. Noch
vor drei Jahren, als der Türkei der Weg zum Kandidatenstatus eröffnet wurde, haben
wir vorausgesagt, dass dieses Regime alles erdenkliche unternehmen wird, um die
Kopenhagener Kriterien nicht umzusetzen, die EU hinzuhalten und die Forderungen
zu degenerieren. Genau das passiert heute. Diese Reformen sind ein Betrug! Abgesehen
davon ist es zweifelhaft, dass das türkische Regime Reformen, die es auf dem Papier
akzeptiert, auch tatsächlich realisiert. Schließlich ist in diesem Land Folter
zwar den Gesetzen zufolge verboten, ja sogar eine Straftat, doch das Räderwerk
des Folters dreht sich systematisch weiter. Im Vertrag von Lausanne, der
die Türkei geformt hat, ist das Recht auf Presse und Sendungen in der Muttersprache
festgeschrieben. Artikel 39 des Lausanner Vertrages besagt, dass „alle Staatsbürger
der Türkei ihre Muttersprache frei und ohne Einschränkung in der Presse sowie
in jedem Bereich des sozialen Lebens nutzen können“. Wie man sieht, sind für dieses
Recht keine Kopenhagener Kriterien notwendig. Lausanne zufolge können sehr wohl
in Kurdisch oder in den Muttersprachen der anderen Staatsbürger Radio- und Fernsehsendungen
ausgestrahlt oder Zeitungen herausgegeben werden. Aber das türkische Regime hat
das seit Jahrzehnten ignoriert, die kurdische Sprache wie auch andere Sprachen,
in den Medien wie in allen Bereichen des sozialen Lebens verboten und diejenigen,
die diese Sprachen gesprochen haben, bestraft. Das türkische Regime ist
entschlossen, die Kopenhagener Kriterien dem selben Schicksal zuzuführen. Es hält
die Europäische Union hin. Wird die EU der Türkei unter diesen Umständen,
also ohne die Erfüllung der geforderten Kriterien, ohne die Durchführung der für
die Demokratisierung notwendigen Schritte, einen Verhandlungstermin nennen? Wird
sie die Türkei in diesem Zustand, ohne die Kurdenfrage gelöst zu haben, ohne dieser
großen Nation ihre grundlegendsten Menschenrechte und nationalen Rechte zuerkannt
zu haben, in ihre Reihen aufnehmen und so die eigenen Normen beiseite schieben?
Nun, das muss die EU selbst wissen. Aber das türkische Regime kann das kurdische
Volk, deren Zahl allein in den Grenzen der Türkei 20 Millionen überschreitet,
nicht mit solcher Augenwischerei hereinlegen. Wir werden den Sklavenstatus,
die Unterdrückung und solch erniedrigende Praktiken niemals akzeptieren. Wie
jedes Volk verlangt das kurdische Volk entschlossen nach Freiheit! Wenn wir zusammenleben
wollen, dann muss das auf dieser Basis der Gleichheit geschehen. Die Ersetzung
der herrschenden rassistischen und militaristischen Verfassung durch eine demokratische
Verfassung, die die kurdische Identität anerkennt, hat Priorität. Die kurdische
Sprache, die die Muttersprache von einem Drittel der Population des Landes ausmacht,
ist neben Türkisch als offizielle Sprache anzuerkennen. Die kulturellen
und politischen Rechte des kurdischen Volkes sind vollständig anzuerkennen. Von
der Grundschule bis zur Universität ist die Bildung in Kurdisch zu ermöglichen. Ganztägige
Radio- und Fernsehsendungen in Kurdisch sind zu realisieren. Kurdische politische
Parteien und Vereine sind frei zuzulassen. Der Weg zu einer föderativen
Lösung auf der Basis der Gleichheit ist zu beschreiten. Die Rechte, die
für 150 Tausend Zyperntürken gefordert werden, sind auch der kurdischen Nation,
die innerhalb der türkischen Grenzen leben, den 20 Millionen Kurden in Nordkurdistan,
zuzuerkennen. Das ist eine wirkliche Lösung, eine wirkliche Demokratie und
Gleichheit. 7. August 2002 Kemal
Burkay Sozialistische Partei Kurdistans (PSK) Generalsekretär |