PRESSEERKLÄRUNG
Der Bundeskanzler Herr Gerhard Schröder wird in den nächsten
Tagen einen Staatsbesuch in die Türkei machen.
Anbei erhalten sie den Brief des PSK Generalsekretär Mesut Tek,
welches er an den Bundeskanzler Herrn Gerhard Schröder geschrieben
hat.
Herrn Bundeskanzler Gerhard Schröder
Bundeskanzleramt
Willi-Brandt-Straße
10557 Berlin
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
die aktuellen Entwicklungen in der Türkei und in der Region verleihen
Ihrem bevorstehenden Türkeibesuch eine große Bedeutung, die über
die eines regulären Staatsbesuchs hinausgeht.
Erlauben Sie uns, der PSK - Sozialistische Partei Kurdistans –,
Ihnen die Entwicklungen, die die Kurden und die Europäische Union
unmittelbar betreffen und interessieren, mitzuteilen. Wir möchten
Sie über einige unserer Forderungen in Kenntnis setzen, von deren
Nutzen für die Implementierung der Demokratie sowie für den Frieden
in der Türkei und in der Region wir überzeugt sind. Wir bitten Sie,
diese bei Ihren Gesprächen mit den türkischen Vertretern anzusprechen.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
Ihre Reise fällt in eine Zeit der bedeutenden Entwicklungen in
der Türkei und der Region. Die Festlegung des Plans für die Neustrukturierung
des Irak sowie seiner zukünftigen politischen Struktur wird in zahlreichen
Kreisen wie auch in den Nachbarstaaten diskutiert. Das Projekt der
Föderation, das die Kurden für ihre Zukunft vorbereiten, hat - wie
zu erwarten war – zu kritischen Reaktionen seitens der Türkei geführt.
Seit Jahrzehnten haben die Kurden im Irak unter dem Leitsatz “Demokratie
für den Irak, Autonomie für Kurdistan” für ihre Freiheit gekämpft
und haben große Opfer zu beklagen: Tausende ihrer Dörfer wurden
zerstört, Hunderttausende wurden von ihrer Heimat deportiert und
verschwanden in “Sammellagern”, über 200.000 Kurdinnen und Kurden
kamen bei dem Giftgasangriff auf Halabja sowie bei den Anfal-Angriffen
ums Leben. Noch bevor die anderen Besatzer unseres Landes, Iran
und Syrien, reagieren konnten, hat die Türkei durch ihre Bevollmächtigten
erklären lassen, die Föderation schade den Interessen der Türkei
und wäre damit unakzeptabel.
Die Türkei mischt sich mit dieser rassistisch-chauvinistischen
Reaktion in einer unerhört groben Weise in die inneren Angelegenheiten
eines Nachbarstaates ein und spricht den Kurden, die mit diesem
Beschluss frei über ihre Zukunft bestimmen, das Recht auf Selbstbestimmung
ab und erzeugt Spannungen, die dem Frieden in der Region schaden.
Die Rolle dieser Haltung bei den Ereignissen vom 31. Dezember in
Kirkuk ist nicht zu unterschätzen.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
die Bundesrepublik Deutschland muss ihre ablehnende Haltung zur
Entsendung türkischer Soldaten in den Irak, die sie zu Beginn des
Irak-Krieges einnahm, beibehalten.
Bitte nutzen Sie als Bundeskanzler eines Staates, der innerhalb
der EU eine bedeutende Position inne hat und vielfältige Beziehungen
zur Türkei unterhält, Ihren Einfluss, um die türkische Regierung
von ihrer Haltung abzubringen. Diese Haltung bedeutet eine Einmischung
in die inneren Angelegenheiten des Irak. Sie behindert die Lösung
der Probleme der Region und verwehrt den Kurden das Recht auf Selbstbestimmung.
Frieden, Stabilität und Zufriedenheit in der Region sind durch
die Lösung der Kurdenfrage möglich. Das Ausbleiben einer Lösung
dieses Problems wird nicht nur die Region, sondern auch Europa und
insbesondere Ihr Land Bundesrepublik Deutschland, in dem eine große
Anzahl von Kurden leben, beeinflussen.
Bei Ihrem Staatsbesuch wird die Mitgliedschaft der Türkei in der
EU ein wichtiges Thema sein. Die Türkei behauptet, die Aufgaben,
die ihr bei dem Gipfel von Helsinki gestellt wurden, erfüllt zu
haben. Sie hätte die notwendigen gesetzlichen und verfassungsrechtlichen
Änderungen durchgeführt und fordert aus diesem Grund die Festlegung
eines Termins für den Beginn der Verhandlungen. Doch die Situation
entspricht nicht der Darstellung der türkischen Verantwortlichen.
Die Türkei ist nicht entschlossen, die Kopenhagener Kriterien, insbesondere
die politischen, die direkt oder indirekt mit der Kurdenfrage zusammenhängen,
umzusetzen.
Während sie für die 200.000 auf Zypern lebenden Türken die Konföderation
fordert, betrachtet sie das Recht auf täglich 1 Stunde Radio- und
Fernsehsendungen in Kurdisch, das in den im Rahmen der Anpassung
an die EU erlassenen Rechte und Richtlinien enthalten ist, als zuviel
für die mehr als 20 Millionen in der Türkei lebenden Kurden und
bindet dieses Recht an unzählige Bedingungen.
Die Forderung der Kurden, Kurdisch in allen Ebenen der Bildung
zu nutzen, ignorieren die Verantwortlichen des türkischen Staates.
Die Anträge auf Kurdisch-Sprachkurse lehnen sie mit fadenscheinigen
Begründungen wie “die Tür des Kursraumes ist zu eng” oder “es sind
nicht genügend Fenster vorhanden” ab. Das Gericht von Van hat ein
kurdischsprachiges Plakat des Menschenrechtsvereins zum Tag der
Menschenrechte verboten und das Urteil in allen Provinzen bekannt
gemacht, damit dort ebenso verfahren wird.
Die Regimentsführung der Gendarmerie der Provinz Diyarbakir ist
sogar einen Schritt weiter gegangen. Sie hat von der Staatsanwaltschaft
die Liste derjenigen verlangt, die auf der Basis des im Rahmen der
Anpassungsgesetze erlassenen Rechtes auf kurdische Namen bei Gerichten
kurdische Namen beantragt haben, um sie zu verfolgen. Die Staatsanwaltschaft
hat diese Forderung erfüllt und die Liste herausgegeben.
In der Türkei ist in den ländlichen Gebieten, also in etwa 90 %
des Landes, die Gendarmerie, sprich das Militär, für die Sicherheit
verantwortlich. Als ob das nicht genügen würde hat die türkische
Regierung vor, ein Gesetz zu erlassen, das der Gendarmerie auch
geheimdienstliche Aufgaben sowie die Ermächtigung, Terrorstraftaten
und die organisierte Kriminalität zu verfolgen, überträgt.
Dies widerspräche den Anpassungsgesetzen an die EU, die die Rechte
des Militärs – wenn auch nur geringfügig – einschränken. Dem Militär
würden damit mehr Rechte gegeben werden. Sie werden uns zustimmen,
dass dies den Kopenhagener Kriterien wie auch den anderen Prinzipien
der EU widerspricht.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
den zahlreichen verabschiedeten Anpassungsgesetzen und durchgeführten
Verfassungsänderungen zum Trotz sind Folter und illegale Hinrichtungen
in der Türkei an der Tagesordnung.
Erlauben Sie uns, dies mit einigen Zahlen aus dem Jahresbericht
2003 des Menschenrechtsvereins (IHD), Büro Diyarbakir, zu verdeutlichen.
Bitte beachten Sie, dass diese Zahlen lediglich die Meldungen bei
dem IHD-Büro Diyarbakir zusammenfassen und Diyarbakir lediglich
ein kleiner Teil von Nord Kurdistan ist.
Dem Bericht zufolge haben im Jahr 2003 in der genannten Region
85 Menschen durch Morde unbekannter Täter sowie durch illegale Hinrichtungen
ihr Leben verloren. Durch Minenexplosionen starben 21 Menschen,
548 Personen wandten sich wegen Folter und Misshandlung an den IHD.
1298 Beamte wurden wegen ihrer Ansichten und ihrer Aktivitäten verhört,
40 Aktionen wurden verboten. In 5625 Fällen wurden Rechte verletzt,
2089 Personen sprachen deswegen im IHD-Büro vor.
Diese Zahlen belegen, wie viele Menschen den Mut gezeigt haben,
überhaupt beim IHD vorzusprechen. Vergessen wir nicht, dass die
Rechtsbeugung und –verweigerung in ländlichen Gebieten aufgrund
der Angst vor den Gendarmen und den Spezialteams meistens nicht
dem IHD oder anderen Institutionen gemeldet werden.
Statt die für die Umsetzung der Kopenhagener Kriterien notwendigen
Schritte anzugehen sucht die Türkei nach Wegen, diese Kriterien
zu verwässern. Die im Zusammenhang mit der Anpassung an die EU verabschiedeten
Gesetze werden in der Praxis nicht angewandt. Diese Tatsache wird,
wie Sie wissen, auch in dem am 5. November 2003 veröffentlichten
“Fortschrittsbericht” der EU angesprochen.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Schröder,
bitte fordern Sie mit Nachdruck bei ihren Gesprächen von den türkischen
Regierungsvertretern, dass sie die Kopenhagener Kriterien umsetzen,
ohne ihre Substanz zu verwässern.
Wie Sie wissen haben die Kurden in der Türkei in dem 15 Jahre andauernden
Krieg großen Schaden erlitten. Die staatlichen Kräfte haben mehr
als 4000 Dörfer und Siedlungsgebiete dem Erdboden gleich gemacht
und Wälder niedergebrannt. Sie haben Millionen von Menschen gezwungen,
ihr Heim zu verlassen und in den Westen des Landes zu ziehen. Etwa
35.000 Kurden, davon rund 25.000 Zivilisten, kamen ums Leben. Die
wirtschaftliche Struktur Kurdistans wurde zerstört, die Ökologie
aus dem Gleichgewicht gebracht.
Nach dem Ende des Krieges keimte die Hoffnung auf, es würden Schritte
zur Lösung der Kurdenfrage eingeleitet werden. Doch die türkischen
Regierungen haben diese Chance nicht genutzt und setzen noch heute
ihre Politik der Verleugnung und Vernichtung fort. Statt die Forderungen
der Kurden nach ihren Menschenrechten und demokratischen Rechten
zu erfüllen, eine Generalamnestie zu erlassen, verhöhnen sie mit
dem sogenannten “Gesetz zur Re-Integration in die Gesellschaft“
die Kurden und zwingen sie zur Kapitulation.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
die Kurdenfrage ist eine der fundamentalen Fragen der Türkei. Ihre
Lösung ist der Schlüssel zur Entwicklung der Türkei in einen demokratischen,
laizistischen und modernen Staat. Eine wirkliche Lösung der Kurdenfrage
liegt allein in der Anerkennung des Rechtes eines Volkes auf Selbstbestimmung,
so wie sie in der Internationalen Erklärung der Menschenrechte der
Vereinten Nationen und in anderen internationalen Verträgen formuliert
ist.
Wir befürworten die Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU. Doch
wenn die EU nicht türkisiert werden will, dann muss sie ihre Prinzipien
schützen und darf nicht zulassen, dass die Türkei diese Prinzipien
verwässert. Das bedeutet, dass der Türkei solange kein Verhandlungstermin
genannt wird, solange sie die Kopenhagener Kriterien nicht vollkommen
erfüllt.
Bitte insistieren Sie bei ihren Gesprächen mit der türkischen Regierung
auf die Erfüllung der unten genannten Forderungen, die dazu führen
werden, dass die EU der Türkei ihre Pforten öffnet.
1. Die Verfassung, die in der jetzigen
Form das Produkt des faschistischen Regimes vom 12. September ist,
muss durch eine neue Verfassung, die die Existenz der Kurden anerkennt,
ersetzt werden.
2. Die Gewaltfreiheit vorausgesetzt,
muss das Recht auf Gedanken- und Meinungsfreiheit sowie Organisationsfreiheit
gesetzlich garantiert werden.
3. Das Recht auf Bildung in der
Muttersprache muss den Kurden in allen Bereichen des Bildungssystems
zuerkannt werden.
4. Das uneingeschränkte Recht auf
jede Art von Radio- und Fernsehsendungen in der Muttersprache muss
den Kurden gewährt werden.
5. Die paramilitärischen Institutionen
wie JITEM, Spezialteams und Dorfschützer, die Produkte des schmutzigen
Krieges sind, müssen aufgelöst und für ihre Straftaten zu Rechenschaft
gezogen werden.
6. Die kurdischen Parteien müssen
das Recht erhalten, sich frei und mit der eigenen Identität zu organisieren.
Die dafür notwendigen rechtlichen Voraussetzungen müssen geschaffen
werden.
7. Der Staat muss sich aus der Religion
raushalten. Jede Gemeinde (muslimische, christliche, jüdische, yezidische,
assyrische und alevitische) muss ihre religiösen Pflichten durch
ihre zivilen Institutionen frei praktizieren können.
8. Eine bedingungslose und alle
umfassende Generalamnestie muss erlassen werden.
Dies sind sicherlich nicht die einzigen Probleme, mit denen die
Türkei konfrontiert ist. Doch wir glauben daran, dass mit der Erfüllung
dieser Forderungen das Land auf den Weg der Demokratie und des Friedens
kommen wird und die Lösung der weiteren Fragen dadurch erleichtert
werden.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
Innerhalb der Grenzen der EU leben mehr als 1 Million Kurden. Der
große Teil der Kurden in Europa unterstützt das wirtschaftliche,
kulturelle und soziale Leben in ihrem Land.
Die Kurden im Ausland beobachten die Entwicklungen in der Heimat
aus der Nähe, sie teilen die Trauer genauso wie die Begeisterung
und Freude mit ihrem Volk. Sie verfolgen aufmerksam die Kurdenpolitik
der Länder, in denen Sie leben und treffen dementsprechend ihre
politischen Präferenzen und nutzen ihre demokratischen Rechte für
die friedliche Lösung der Kurdenfrage.
Seien Sie versichert, dass Ihre Bemühungen für die Installierung
des Friedens in der Region, für die friedliche Lösung der Kurdenfrage,
die den Weg zur Demokratisierung der Türkei öffnen wird, Ihr Ansehen
und das Ansehen Ihrer Partei bei den kurdischen Parteien steigern
wird.
Wir wünschen Ihnen einen erfolgreichen Verlauf ihres Besuches und
verbleiben
Hochachtungsvoll
Mesut Tek
Sozialistische Partei Kurdistans
Generalsekretär
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