Verfassungsänderung
in der Türkei: Alles bleibt beim Alten
Endlich
hat die Verfassungsänderung, über die seit Monaten spekuliert wurde,
das „ehrwürdige“ Parlament durchlaufen. Juristen hatten bereits
im Vorfeld über dieses aus 37 Artikeln bestehende Paket gesagt:
„Aufgeblasen und innen hohl.“
Drei
oder vier Artikel, die hinsichtlich der politischen Freiheiten für
viel Furore gesorgt hatten, enthielt dieses hohle Paket: Da ging
es um Meinungs- und Pressefreiheit, um die Todesstrafe, um die Immunität
der Abgeordneten sowie um internationale Abkommen. Aber diese Artikel
wurden entweder auf Intervention des Generalstabs und des Koalitionspartners
MHP (Partei der nationalistischen Bewegung) ausgehöhlt oder im türkischen
Parlament verhindert.
Eine
der Änderungsvorschläge im Entwurf bezog sich auf die Meinungs-
und Pressefreiheit. Angeblich sollten diese Freiheiten durch die
Änderung eines Satzes in der Präambel ermöglicht werden.
Ursprünglich
lautet der Satz wie folgt: „Keine Meinung und Ansicht gegenüber
den türkischen nationalen Interessen, der türkischen Existenz, dem
Grundsatz der Unteilbarkeit von Staatsgebiet und Staatsvolk, den
geschichtlichen und ideellen Werten des Türkentums und dem Nationalismus,
den Prinzipien und Reformen sowie dem Zivilisationismus Atatürks
wird geschützt und ...“
Die
Regierung hatte angeregt, anstelle der Formulierung „Meinung und
Ansicht“ den Begriff „Aktion“ zu verwenden. Auf diese Weise sollte
dann angeblich die Meinung allein nicht mehr strafbar sein. Doch
der Generalstab war gegen diese Änderung, denn die Generäle waren
dagegen, dass die Bürger ihre Meinungen frei äußern durften. Sie
waren davon überzeugt, dass dies die „Bekämpfung des Terrors“ schwächen
würde.
Eigentlich
wäre es für die Sicherheit des Staates wohl das Beste, wenn die
Bürger überhaupt nicht nachdenken würden, so würde es wie beim braven
Soldaten Schweyk sein: „Ich denke nicht, mein Kommandeur denkt!“
Da
die MHP derselben Ansicht wie der Generalstab war, verwendete die
Verfassungskommission anstelle der Formulierung „Aktion“ den noch
unpräziseren Begriff „Aktivität“. Auf diese Weise wurde jede „Aktivität“,
die sich gegen die oben aufgeführten Tabus (türkische nationale
Interessen, die geschichtlichen und ideellen Werte des Türkentums,
die Prinzipien und Reformen Atatürks etc.) richtet, verboten und
unter Strafe gestellt.
Das
bedeutet, dass das System der Verbote weitergehen wird. Denn was
hier verboten wurde, sind nicht gewalttätige Aktionen oder gewaltverherrlichende
Weltanschauungen, sondern jede Art von Aktivität, die sich gegen
die oben genannten Verbote richtet. Jede Art politische und kulturelle
Betätigung auch friedlicher Natur fällt darunter. Wenn zum Beispiel
eine politische Partei die friedliche Lösung der Kurdenfrage auf
ihre Tagesordnung nimmt, für die Kurden eine Föderation oder Autonomie
oder auch lediglich kulturelle Rechte einfordert, dann wird dies
als „Aktivität zur Spaltung von Staatsgebiet und Staatsvolk“ gewertet,
die entsprechende Partei geschlossen und deren Führungskräfte bestraft.
Und selbst wenn eine solche Meinung nicht von einer Partei, sondern
einer Person vertreten wird, ergeht es ihr nicht anders. Das heißt
also, dass auf der Basis dieser Vorschrift Willkür und Unterdrückung
wie gehabt weitergehen kann.
Und
selbst wenn anstelle von „Aktivität“ „Aktion“ gesagt worden wäre,
würde das nichts ändern. Denn jede politische und kulturelle Arbeit
ist gleichzeitig eine Aktion, eine Tat. Meinungsfreiheit kann es
nur dann geben, wenn das Recht existiert, die Meinung zu äußern
und zu verbreiten. Dies wiederum ist eine Aktivität, eine Aktion.
Was verboten werden müsste, wäre die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung
der Meinung.
Somit
sehen wir ganz deutlich, dass mit dieser Änderung die Verbote gegenüber
der Meinungsfreiheit weder aufgehoben, noch entschärft wurden. Gegenteilige
Behauptungen sind nichts weiter als ein erneuter Versuch, die inländische
sowie die internationale Öffentlichkeit zu täuschen.
Die
Präambel der gültigen Verfassung an sich ein Monument des Rassismus.
In
diesem Kapitel der Verfassung wird ausdrücklich der „türkische Nationalismus“
zum Grundsatz gemacht, alles andere wird zurückgewiesen. Ist das
kein rassistisches Verständnis? Und das, wo in der Türkei zahlreiche
andere ethnische Gruppen außer den Türken leben und die Kurden ein
Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachen.
Diese
Verfassung stützt sich von Anfang an auf eine einzige ethnische
Gruppe und schließt damit die anderen aus. Den anderen gewährt sie
gegenüber den „geschichtlichen und ideellen Werten des Türkentums“
keinen Schutz. Sie negiert sie und gesteht ihnen keinerlei Rechte
zu. Das ist Rassismus, Chauvinismus, ja es ist ein Zustand, wie
er nur von den faschistischen Regimen bekannt ist.
In
den 30er Jahren hatte der türkische Justizminister Mahmut Esat Bozkurt
gesagt: „Der einzige Besitzer und Herr dieses Landes sind die
Türken. Die anderen haben keinerlei Rechte; und wenn sie ein Recht
haben, dann das, den Türken zu dienen.“
Diese
unverfrorenen Worte entsprechen auch vollends den heute gängigen
Praktiken. Auch die Präambel der türkischen Verfassung sagt im Grunde
genommen nichts anderes aus.
* * *
Auch
die Änderungen in Art. 26 und 28 die Meinungs- und Pressefreiheit
betreffend bringen entsprechend dem Verständnis in der Präambel
der Verfassung keine Veränderungen mit sich, die alten Verbote,
der undemokratische Rahmen bestehen weiter.
In
Art. 26 heißt es, die Meinungsfreiheit kann mit Begründungen wie
der Gefährdung der „nationalen Sicherheit, öffentlichen Ordnung,
Sicherheit der Allgemeinheit und der unteilbaren Einheit von Staatsgebiet
und Staatsvolk“ eingeschränkt werden. Was könnte man nicht alles
unter diesem schwammigen Begriff fassen! Es waren schließlich diese
Regeln und Konditionen, die auch bis heute die Meinungsfreiheit
auf ein nichtiges Maß reduziert hatten. Der Staat gründete seine
Unterdrückungspolitik auf diese Vorwände. Polizisten und Staatsanwälte
haben jede beliebige Aussage, jeden Artikel, jedes Bild und jede
Karikatur mit diesen Begründungen verfolgt, die Gerichte haben auf
dieser Grundlage Strafen verhängt, Publikationen konfisziert und
verboten.
In
demselben Artikel heißt es ferner, dass „Veröffentlichungen, die
über das Radio, Fernsehen, Kino oder ähnliche Wege verbreitet werden,
an eine Genehmigung gebunden werden können“. Was kann man nicht
alles unter „ähnliche Wege“ verstehen? Das System funktioniert ohnehin
schon jetzt nur auf der Basis von Genehmigungen und Verboten.
Eine
Änderung, die in den Artikeln 26 und 28 der Verfassung vorgenommen
werden soll, wird heftig übertrieben. Es handelte sich dabei um
den Satz „in einer gesetzlich verbotenen Sprache darf nicht publiziert
werden“, der nunmehr aus dem Verfassungstext herausgenommen werden
sollte.
In
einigen Presseorganen wurde diese Änderung als „Freigabe der kurdischen
Sprache“ charakterisiert. Dabei sieht die Wirklichkeit völlig anders
aus. Diese Aussage, die zum Verbot der kurdischen Sprache diente,
war 1982 von der faschistischen Junta in die Verfassung aufgenommen
worden. Später wurde mit Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 2932 eine
Verordnung erlassen, die das Kurdische, ohne es beim Namen zu nennen
verbot.
Aber
die kurdische Sprache war auch vor der Zeit der Junta, das heißt
bevor diese Vorschriften erlassen wurden, nicht frei. Und das entgegen
Art. 39 des Lausanner Abkommens, in der allen Bürgern der Türkei
das Recht zuerkannt wurde, im Privatleben und bei Veröffentlichungen
ihre Muttersprache zu verwenden. Das Regime hatte unter Verletzung
dieses Artikels die kurdische Sprache in jedem Bereich verboten.
Kurdische Veröffentlichungen wurden nicht genehmigt. Von Zeit zu
Zeit wurde es sogar unter Strafe gestellt, auf dem Markt und in
der Stadt Kurdisch zu sprechen.
Sicherlich
haben die Kurden sich diesen Unterdrückungsmaßnahmen widersetzt.
Vor allem seit Beginn der 60er Jahre haben sie immer wieder versucht,
kurdische Bücher, Zeitungen und Zeitschriften zu veröffentlichen.
So hatte das Regime mit den genannten Verboten versucht, jedwede
legalen Kanäle zu stopfen. Doch auch das hat nicht gefruchtet. Einerseits
war es der Widerstand der kurdischen Intellektuellen, ihre Sprache
auch bei Veröffentlichungen zu verwenden, andererseits Kritik aus
dem Ausland, die dazu führten, dass das Regime einen Schritt zurückweichen
musste.
Zuerst
wurde das Gesetz Nr. 2932 aufgehoben. Nun wiederum wird auch die
verfassungsmäßige Grundlage des Gesetzes beseitigt. Aber selbst
wenn dies als ein Rückschritt gewertet werden kann, so wäre es doch
verfrüht und überaus optimistisch zu behaupten, die kurdische Sprache
wäre damit freigegeben. Das Regime hat das nicht vor. Gleich nach
der Änderung sagten die Führer des zweitgrößten Koalitionspartners
MHP, diese Änderung bedeute keinesfalls, dass Kurdisch nunmehr zugelassen
wäre, sondern vielmehr, dass alles beim Alten bleiben werde.
Wie
man sieht, handelt es sich auch hierbei wieder nur um Augenwischerei.
Die Politik der Regierung gegenüber der Kurdenfrage, insbesondere
gegenüber der kurdischen Sprache, hat sich nicht geändert. Die alte,
primitive, repressive Politik wird weitergehen.
Wenn
sich wirklich jemand dieser Meinung nicht anschließt und glaubt,
die Regierung wolle nunmehr ehrlich die Hürden, die der kurdischen
Sprache entgegenstehen, aufheben und die Kopenhagener Kriterien
erfüllen und gleichzeitig die Forderungen aus dem Beitritts-Partnerschafts-Dokument
einlösen, dann wäre er übermäßig optimistisch. Die Tage und Monate,
die vor uns liegen, werden ohnehin die wahren Absichten des türkischen
Regimes preisgeben. Wenn die Regierung tatsächlich solch edle Absichten
verfolgen würde, würde sie diese vor allem der Öffentlichkeit gegenüber
deklarieren, würde die Vorschriften aus dem Gesetz zum Rundfunk-
und Fernsehkontrollrat (RTÜK), die Rundfunk- und Fernsehsendungen
in Kurdisch entgegenstehen, aufheben und diese Neuerungen dann mit
ihren Taten unter Beweis stellen.
Dabei
wurden noch in den Tagen, als diese Änderungen vorgenommen wurden,
ständig kurdische Bücher konfisziert und Zeitschriften verboten.
Dazu
kommt, dass das Problem nicht allein darin besteht, ob es Veröffentlichungen
in Kurdisch gibt oder nicht. Solange keine Meinungsfreiheit herrscht,
solange die Kurdenfrage nicht offen diskutiert werden kann, genießen
diese Veröffentlichungen keinerlei Sicherheiten; das Regime kann
sie mit allerlei Vorwänden behindern und zum Schweigen bringen.
In
Diyarbakir wurde zum Beispiel ein Fernsehsender auf Beschluss des
Rundfunk- und Fernsehkontrollrates für ein Jahr geschlossen, weil
er ein kurdisches Volkslied gesendet hatte. Nicht mit der Begründung,
das Lied sei auf kurdisch, sondern es sei „separatistisch und aufwieglerisch“.
Dabei stellte das Gericht später in seinem Urteil fest, das Lied
habe überhaupt keinen politischen Inhalt, es sei vielmehr ein volkstümliches
Liebeslied; inzwischen aber war ein Jahr vergangen.
* * *
Eine
der kurzfristigen Änderungen, die die EU von der Türkei verlangt
hatte, war die Aufhebung der Todesstrafe. Daher hat sich die Regierung
widerwillig Art. 38 vorgenommen, es aber einfach nicht fertiggebracht,
diese Strafe gänzlich aufzuheben. Was am Schluss dabei herauskam,
war genau das, was immer schon gemacht wurde, nämlich die Angelegenheit
zu degenerieren und Augenwischerei zu betreiben. So lautet nun die
Neufassung des Artikels: „Es kann keine Todesstrafe verhängt
werden, außer im Kriegsfalle, bei drohender Kriegsgefahr und bei
terroristischen Straftaten.“
Betrachtet
man dabei, dass das, was das türkische Regime als terroristische
Straftaten bezeichnet, politische Straftaten sind, so wird deutlich,
was die genannte Vorschrift besagt. Es bedeutet, dass die Todesstrafe
nur für gewöhnliche Straftaten aufgehoben wurde. Für politische
wird es sie weiterhin geben. Wobei auch für gewöhnliche Straftaten
die Todesstrafe nicht gänzlich abgeschafft wurde. Im „Kriegsfall
und bei drohender Kriegsgefahr“ wird es sie auch da geben.
Warum
im Kriegsfalle? Wieso gibt es für die übrigen Menschen plötzlich
die Todesstrafe, wenn nach internationalem Recht im Kriegsfalle
sogar Gefangene nicht hingerichtet werden können? Und was bedeutet
„drohende Kriegsgefahr“? Auch das ist ein äußerst abstrakter
Begriff und für ein Land wie die Türkei, das im Laufe seiner Geschichte
stets unter Kriegsrecht und Ausnahmezustand gestanden hat und mit
seinen Nachbarn schlechte und spannungsgeladene Beziehungen unterhält,
wird es kaum schwierig sein, stets eine „drohende Kriegsgefahr“
anzunehmen.
Im
Endeffekt also ist die Todesstrafe in diesem Land nicht aufgehoben
worden.
* * *
Eine
der Verbesserungen, die man sich von der letzten Verfassungsänderung
erhofft hatte, war, dass es endlich Organisationsfreiheit geben
sollte und damit verhindert würde, dass Parteien verboten werden.
In
einem demokratischen Land gilt grundsätzlich, dass Parteien nicht
verboten werden, solange sie nicht Gewalt als Mittel billigten.
In der Türkei dagegen werden Parteien aufgrund ihrer Meinungen und
Programme geschlossen. Daher ist das Land auch im Laufe der Zeit
zu einem Parteienfriedhof geworden.
Doch
auch die letzte Verfassungsänderung hat diesbezüglich keine demokratischen
Schritte eingeleitet. Die stattgefundene Änderung ist nichts als
eine unbedeutende Retusche. Die alten Schließungsgründe gelten weiterhin.
Die Hindernisse, die der Meinungs- und Diskussionsfreiheit entgegenstehen,
bestehen für die politischen Parteien mit unverminderter Härte weiter.
Außerdem
wurden bei der Änderung für die Parteien neue Strafen eingeführt
wie Streichung der Finanzhilfen aus der Staatskasse. Parteien, die
dem Regime nicht passen, sind dann von solchen Hilfen ausgenommen.
Auf diese Weise ist eine neue Grundlage für die Ungleichheit im
Wettbewerb zwischen den politischen Parteien entstanden.
Aber
auch außerhalb der Verfassung, im türkischen Strafgesetzbuch, dem
Parteien- und dem Wahlgesetz gibt es zahlreiche Vorschriften, durch
die die Aktivitäten der Parteien in erheblichem Maße eingeschränkt
werden. So ist es zum Beispiel laut dem Parteigesetz schon ein Schließungsgrund,
wenn eine Partei verlautbart, es gebe in der Türkei andere Kulturen
als die türkische. Auf dieser Basis darf also eine politische Partei
die Repressalien, denen die kurdische Kultur unterworfen ist, nicht
zur Sprache bringen und nicht fordern, dass diese ein Ende nehmen.
Somit
hat also diese Verfassungsänderung auch im Bereich Organisationsfreiheit
keine Verbesserungen eingeleitet. Das Verbotssystem dauert wie gehabt
an.
* * *
Auch
die Änderung von Art. 118 der Verfassung, die sich auf den Nationalen
Sicherheitsrat (NSR) bezieht, der zur Zeit in der Position einer
dem Parlament und der Regierung übergeordneten Institution ist,
ist nichts weiter als eine Retusche, die an der Situation letztlich
nichts ändert.
Die
Türkei leidet seit Jahren unter dem Einfluss, den diese Institution
auf die zivile Politik ausübt. Im Rat selbst geschieht, was die
Generäle sagen. Der NSR bestimmt nicht nur die nationale Sicherheitspolitik,
sondern die gesamte Innen- und Außenpolitik in allen bedeutenden
Angelegenheiten. Was der Nationale Sicherheitsrat anerkennt, sind
die „Politikdokumente zur Nationalen Sicherheit“, die vor
der Öffentlichkeit geheim gehalten werden, die für jeden, einschließlich
Regierung und Parlament verbindlich sind. Das Parlament darf keine
Gesetze erlassen, die diesen Dokumenten entgegenstehen. Die rechtliche
Grundlage hierfür wiederum ist das Gesetz über das Generalsekretariat
des Nationalen Sicherheitsrates.
Die
demokratische Öffentlichkeit in der Türkei fordert schon seit langem,
dass diese Institution abgeschafft wird. Auch in dem Beitritts-Partnerschaftsdokument
der EU war gefordert worden, dass der außerordentlich einflussreiche
Status des Nationalen Sicherheitsrates aufgehoben und dieser in
ein beratendes Organ der Regierung umgewandelt wird.
Doch
die einzige Änderung ist die Aufnahme des Justizministers in den
Nationalen Sicherheitsrat und das Stimmrecht des Vizeministerpräsidenten.
* * *
Somit
hat die Verfassungskommission einige sinnvolle Artikel aus dem „aufgeblasenen,
aber innen hohlen“ Änderungspaket der Regierung noch weiter beschnitten
und sie dem Plenum vorgelegt. Dieses wiederum hat drei weitere Artikel
außen vor gelassen und schließlich 34 Artikel angenommen, die für
das Unterdrückerregime völlig „harmlos“ sind und nichts zu einer
Demokratisierung beitragen.
Einer
der im Plenum abgelehnten Artikel war die Vorschrift, wonach internationale
Abkommen im nationalen Recht Gültigkeit haben sollten. Das heißt
für den Fall, dass nationale Gesetze internationalen Abkommen widersprechen,
die internationalen Abkommen gültig sein werden. Solch eine Änderung
war auch von der EU-Kommission gefordert worden. Doch das türkische
Parlament hatte befunden, dass eine derartige Änderung der nationalen
Souveränität entgegenstünde und sie daher abgelehnt. Auf diese Weise
ist verhindert worden, dass insbesondere internationale Abkommen,
die für die Menschenrechte von Bedeutung wären, in der Türkei Gültigkeit
erhielten. Das Regime hat sich also wieder einmal vor der Demokratisierung
verschlossen.
Ein
weiterer vom Plenum abgelehnter Artikel bezog sich auf die parlamentarische
Immunität. Mit der Änderung des Artikels 83 wollte man die Aufhebung
der parlamentarischen Immunität für eventuelle Straftaten, die unabhängig
von der parlamentarischen Arbeit der Abgeordneten begangen wurden,
erleichtern. Doch die Herren Parlamentarier ließen dies nicht zu,
sie wollten den Schutz der parlamentarischen Immunität weiterhin
genießen.
So
unverschämt dieses Verhalten ist, so ist sie doch nicht verwunderlich.
Es ist nur natürlich, dass solche Männer vor der Justiz Angst haben.
Denn unter ihnen befinden sich zahlreiche Personen, denen Straftaten
wie Mord, Rauschgiftschmuggel und Korruption vorgeworfen werden.
Die Immunität deckt ihre Straftaten und schützt sie vor Strafverfolgung.
Diese Herren, die sich das Recht vorbehalten, andere aufgrund ihrer
Äußerungen und Meinungen strafrechtlich zu verfolgen, die dieses
System beharrlich aufrecht erhalten wollen, schämen sich nicht,
ihre eigenen Schandtaten dem Arm des Gesetzes zu entziehen.
Doch
dies war nicht das einzige, was die Abgeordneten dieses „ehrwürdigen“
Parlaments, die sich „Volksvertreter“ nennen, zustande gebracht
haben. Sie haben auch, während sie einige demokratische Artikel,
die ihnen vielleicht zum Nachteil gereichen würden, verhinderten,
schnell noch mit großer Stimmenmehrheit eine Vorschrift in das Änderungspaket
aufgenommen, wonach ihre Diäten in astronomische Höhen angehoben
wurden. Auf diese Weise wurden ihre Bezüge von 4 Milliarden 200
Millionen auf 6 Milliarden 200 Millionen TL angehoben. Außerdem
sicherten sie sich „erstklassige Pensionen“, die bereits neunmal
vom Verfassungsgericht zurückgewiesen wurden.
Wenn
man bedenkt, in welcher Wirtschaftskrise sich das Land befindet,
wie die Gesellschaft unter der anhaltenden Arbeitslosigkeit und
Armut leidet und die Bevölkerung dennoch dazu gezwungen wird, den
Gürtel noch enger zu schnallen, so ist es einfach dreist, was die
Abgeordneten hier getan haben.
Damit
zeigt sich also wieder einmal das Niveau, beziehungsweise die Niveaulosigkeit,
des türkischen Parlaments, und es wurde bewiesen, wie der Präsident
des Kassationsgerichtshofes Sami Selçuk bereits gesagt hat, dass dieses
Parlament nicht imstande sei, die Verfassung grundlegend zu ändern.
Von
einer wirklichen Verfassungsänderung kann nur dann die Rede sein,
wenn eine Änderung in Richtung einer Demokratisierung durchgeführt
wird. Und das ist nicht geschehen. Es wäre ohnehin unmöglich gewesen,
diese Zwangsjacke von Verfassung, die die faschistische Militärjunta
vom 12. September 1980 der Gesellschaft angelegt hatte, mit derartigen
Retuschen zu demokratisieren. Und dieses Parlament hatte nicht einmal
den Willen dazu.
Diese
Verfassung muss gänzlich außer Kraft gesetzt und durch eine neue,
moderne, demokratische Verfassung ersetzt werden. Das wiederum ist
nur durch die Hand von angesehenen Verfassungsrechtlern und durch
die Beteiligung breiter Bevölkerungsschichten in der Weise, wie
Sami Selçuk es angeregt hat, durch
eine konstitutionelle Versammlung möglich.
Aber
ist es unter den derzeitigen Umständen überhaupt möglich, eine solche
Versammlung einzuberufen? Wer soll das beschließen? Diese kranke
Regierung, dieses verkommene Parlament, oder die Generäle mit ihren
Knüppeln in der Hand?
Eines
steht fest: Nur das Volk kann einen wirklichen Wandel verwirklichen,
wenn es nach Demokratie verlangt. Doch das Volk ist durch all die
Tritte und Schläge, denen es jahrelang ausgesetzt war, dermaßen
unterdrückt und zerschlagen, dass es angesichts dieser Geschehnisse
völlig hilflos dasteht.
Somit
wird es noch einige Zeit dauern, bis das schlimme Schicksal des
Volkes und des Landes eine Wende nimmt. Vielleicht kommt der Wandel
erst nach einem noch ärgeren Zusammenbruch, wenn alles am Boden
liegt.
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